Jenseits der Gewohnheiten
Der uns entgegenkommende Lastwagen bremst brüsk ab und kommt fast gleichzeitig wie Columbus zum Stehen. Vor uns ein Mann in Töffbekleidung der energisch mit den Armen fuchtelt. Sein Motorrad liegt am Boden und mit vereinten Kräften wird dem Töff wieder auf die Räder geholfen. Während sich der Lastwagenfahrer mit einem Augenzwinkern im Sinne von „shit happens“ verabschiedet, wechselt Fredi noch kurz ein paar Worte mit dem Töff-Fahrer. Kein Wunder hat der die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Dieser Streckenabschnitt des Dempster Hwy glänzt vor allem durch eine Eigenschaft: Loser Kies. Den Velofahrer*innen, denen wir – anstrengungsfrei im Columbus sitzend – begegnen, zollen wir unseren Respekt für ihre kräftezehrende Leistung. Mitunter treffen wir auch auf solche, die sich eine Pause gönnen und ihr Velo stossen. Was ich mehr als nur verstehen kann.
Da der Töff-Fahrer ganz offensichtlich wohlauf ist, fragt Fredi, mit dem entsprechenden Verständnis für Malörs dieser Art ausgestattet: „Ich hoffe, dem Töff ist nichts passiert?“. Worauf ihm der Töff-Fahrer mit einem leicht gequälten Grinsen zur Antwort gibt: „Nein, alles ok, nur mein Ego hat gerade etwas gelitten“.
Unser Ziel heisst Tuktoyaktuk, umgangssprachlich nur „Tuk“ genannt. Es ist das Heimatland der Inuits (Eskimos, was übersetzt so viel wie „Schneeschuhflechter“ bedeute). Nach diesem Dorf, das nördlich des Polarkreises in Kanada liegt, geht es nicht mehr weiter, jedenfalls nicht für Autos. Die Strasse nach Tuk ist erst seit 8 Jahren auch im Sommer befahrbar und die indigene Bevölkerung begegnet den Menschen, die den Weg hierhin finden, mit grosser Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Wir sind uns unserer Verantwortung, als Fremde hier aufzutauchen, bewusst. Wissen wir doch aus eigener Erfahrung, wie schnell die Stimmung der einheimischen Bevölkerung Touristen gegenüber kippen kann.
Am äussersten Zipfel der treffend benannten „End of the Road“ geniessen wir die Mitternachtsonne. Und stellen einmal mehr fest, wie einfach es doch ist, bei 24 Stunden Helligkeit sonst übliche Gewohnheiten über Bord zu werfen und die Zeit zu vergessen: Apéro erst gegen 23.00 Uhr, Abendessen noch später. Freiheit pur.
Ein paar Tage später – durchgeschüttelt wegen der durchwegs ungeteerten Strasse mit steinigen Abschnitten, Schlaglöchern und unzähligen Bodenwellen – kommen wir wieder in Dawson City an. Diese kleine Stadt käme glatt als Kulisse einer dieser alten US-Westernfilme durch, aber nein: Sie hatte ihren Höhepunkt während den Zeiten des Klondike-Goldrausches und mit viel Charme bemüht sie sich heute, einen Einblick in längst vergangene Zeiten zu geben. Was ihr bestens gelingt.
So bleiben auch wir ein paar Tage hängen. Im Internet forschen wir nach einer Möglichkeit, am Sonntag einen Gottesdienst zu besuchen, werden fündig und machen uns wohlgemut um 09.45 Uhr auf die Socken. Was dann passierte, gäbe genügend Stoff für einen eigenen Blog. Nur so viel: Anstatt wie geplant um 10.00 Uhr in der Kirche anwesend zu sein, sitzen wir um 09.55 Uhr, ausgerüstet mit einer Schwimmweste, in einem kleinen Boot, welches mit uns auf dem Yukon-River flussaufwärts braust. Während das Ding noch an Fahrt zunimmt, blickt mich Fredi mit leicht gerunzelter Stirn an und fragt: „Wissen wir gerade, was wir tun?“ „Nicht wirklich“ lautet meine Antwort, aber immerhin hat es noch ein paar Einheimische an Bord, also kommt das wohl schon gut. Als wir nach etwa 10 Minuten an Land gehen, stehen wir auf einer grossen Wiese, rechts ein kleines baufälliges Kirchlein (ohne Gottesdienst), viel weiter links ein offenes Gebäude (mit Gottesdienst). Dass wir uns gerade am alle zwei Jahre stattfindenden „Moosehide Gathering“ (für die indigene Bevölkerung ein bedeutender Anlass, wo Traditionen weitergegeben werden) befinden, tagt uns erst ein bisschen später. Und erst dann macht die Liturgie des anglikanischen Gottesdienstes mit den vielen Elementen des Glaubens der „First Nations“ auch Sinn – darüber konnten wir uns im Anschluss mit dem Pfarrer noch austauschen. Allemal ein Novum für uns: Wir waren definitiv noch nie mit einer Schwimmweste unter dem Arm in einem Gottesdienst 😊
PS: Den Töff-Fahrer haben wir übrigens auf dem Rückweg von Tuk nochmals getroffen und gemeinsam mit ihm Pause gemacht. Es kam zu einem lebhaften Gespräch mit einer cleveren und hochinteressanten Persönlichkeit in unserem Alter, ausgestattet mit der Art Humor, wie wir ihn lieben.
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Titelbild: Tuktoyaktuk (Arktischer Ozean)
Unsere Route
Wir sind auch froh, Euch wieder an Bord zu haben – Euch und Eure Kommentare haben wir gleichermassen vermisst! Hier regnet es gerade in Strömen! Herzlich, Tschikai und Milo
Vielen Dank. Endlich konnten wir eure interessanten Beiträge wieder lesen. Wir haben nicht nur euch, sondern auch die Beiträge vermisst.
Es liebs Grüessli vom Leu und vom Schnäggli