Der andere Blick
Für den heutigen Blog war ein anderer Titel vorgesehen, nämlich: „Schlüsselsuche“. Wir wollten die (erfolglose) Suche nach unserem Schlüsselbund erläutern. Nicht, dass unser Leben daran hängt, aber immerhin darf er als das Eingangstor schlechthin in unser Leben in der Schweiz bezeichnet werden. Und das rückt ja immer näher. In aller Kürze: Auf der Suche nach diesem gewichtigen Teil haben wir in Toronto Columbus einer regelrechten Inspektion unterzogen und ihn komplett aus- und wieder eingeräumt. Die Schlüssel haben wir trotzdem nicht gefunden. Erst ein paar Tage später haben unsere mittlerweile von den vielen Sehenswürdigkeiten ermatteten Hirnzellen signalisiert, dass das gesuchte Objekt gar nicht im Camper sein kann. Wer die ganze Story hören möchte: Gerne mündlich bei einem Glas Wein 😉.
Wie auch immer: Dass wir nun ein völlig anderes Thema abhandeln, hat mit einer Begebenheit zu tun, die sich erst gerade ereignete und deshalb an Aktualität nichts zu wünschen übrig lässt.
Auso – der Reihe nach: Der beste aller Columbus-Piloten hält ein wohlverdientes Mittags-Nickerchen. Kaum aufgewacht, drücke ich aufs Tempo Richtung Supermarkt. Immerhin geht es darum, für die nächsten Tage verpflegungsmässig so einiges sicherzustellen. Doch bereits auf dem Weg dorthin meint Fredi plötzlich: „Irgendwas stimmt da nicht – ich sehe nicht scharf.“ Ich natürlich sofort „on increased alert“. Mit einem Seitenblick vergewissere ich mich, dass er seine Brille auf der Nase hat. Hat er, das kann es also nicht sein.
Im Einkaufsladen (für amerikanische Verhältnisse ein Mini-Shop) kurvt Fredi mit dem Wägeli einigermassen orientierungslos durch die Gänge, während ich versuche, halbwegs effizient unsere Einkäufe zu tätigen. Auf eine diesbezügliche Unterstützung meines Ehemannes kann ich gerade nicht zählen: Der ist damit beschäftigt zu prüfen, ob seine Sicht nach wie vor unscharf ist. Und bleibt deshalb bei für uns aktuell irrelevanten Produkten (Hundefutter) stehen, starrt die Dosen an und versucht herauszufinden, was genau darauf steht. Das Resultat ist wenig erfreulich: Immer noch alles verschwommen. Aber nur auf dem linken Auge. Das ist einerseits im wahrsten Sinne des Wortes beruhigend, veranlasst mich aber andererseits doch zur Frage: „Denkst Du, wir sollten einen Augenarzt aufsuchen?“ Fredi in seiner gewohnt unaufgeregten Art meint ohne Augenrollen: „Ach vielleicht brauche ich einfach eine Mütze voll Schlaf, und dann gibt sich das wieder. Wenn nicht, können wir immer noch weiterschauen.“ Dein Wort in Gottes Ohr, denke ich.
Aus nicht weiter zu erläuternden Gründen (da völlig klar) übernehme ich die Rückfahrt zurück zu unserem temporären Zuhause. Dort streckt sich Fredi mit Brille auf dem Bett aus, während ich mich erst mal dem Kühlschrank und dem Verräumen unserer Ess- und Trinkwaren widme. Bis mein Blick am Tisch hängenbleibt. Dort liegt etwas. Was nicht dorthin gehört. Ein Stück Glas. Fredi’s linkes Brillenglas.
Die Rekonstruktion des Geschehens gestaltet sich nach der ersten Erleichterung über den unerwarteten Fund und dem ersten Lachanfall einfach: Die Schraube, welche das Glas im Brillengestell zusammenhält, muss sich selbständig gemacht haben. Höchstwahrscheinlich dann, als Fredi seine Brille für sein Nickerchen auf den Tisch legte. Wobei Schraube ein grosses Wort ist. Schräubchen würde es wohl eher treffen. Das Ding ist so klein, dass man es mit blossem Auge (und ohne Brillenglas) definitiv nicht sehen kann. Wir beginnen gar nicht erst mit der Suche und geben sofort forfait, sitzen stattdessen auf dem Bett und kichern vor uns hin.
Sagt Fredi: Stell Dir vor, wir hätten einen Arzt aufgesucht und der hätte dann gesagt: „Guter Mann, Ihnen fehlt nichts. Ausser einem Brillenglas. Haben Sie eine Ahnung, wo das sein könnte?“ Weisch wie, das wäre so was von oberpeinlich gewesen!
Erneutes Gelächter.
Dann nochmals Fredi: „Warum hast Du das im Supermarkt eigentlich nicht gesehen, dass mir ein Brillenglas fehlt? Du hast mich doch mehr als einmal angeschaut, vor allem, als es darum ging, ob wir nun einen Arzt aufsuchen sollen oder nicht.“. Ich blicke ihn an, tippe mit einem Finger auf mein linkes Brillenglas, welches ein leichtes Klopfgeräusch als Zeichen seiner Anwesenheit von sich gibt und gebe zur Antwort: „Keine Ahnung“. Und wir grinsen schon wieder.
Als nächstes muss nun aber für die verbleibenden Tage eine tragbare Lösung gefunden werden. Fredi kann das Brillenglas ja schlecht in der Hand halten und immer dann ans Gesicht drücken wenn er was sehen will. Also muss das Glas zurück ins Gestell – auch ohne Schräubchen. Einmal mehr bin ich dankbar für den Einfallsreichtum des Mannes, mit welchem ich nun schon 39 Jahre verheiratet bin. Wie gewohnt findet er für fast alle Probleme eine Lösung. Diesmal ist es ein Stück Kupferlitze. Die Feinarbeit bleibt aus ersichtlichen Gründen an mir hängen. Und das Resultat darf sich sehen lassen.
Kleiner Reisetipp zum Schluss: Wer plant, sich die Niagarafälle anzuschauen, sollte dies, wenn immer möglich von der kanadischen Seite aus tun. Es lohnt sich!
Und ganz zum Schluss: Columbus befindet sich seit ein paar Tagen auf dem Schiff zurück nach Hamburg. Und wir blinzeln noch ein bisschen in die Sonne, geniessen die restlichen Tage einer in jeder Hinsicht unvergleichlichen Reise und geben den vergangenen Monaten so die Möglichkeit, sich setzen zu lassen. „Hang loose“
.
Titelbild: In den Great Smoky Mountains
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